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  • AutorenbildKarla B.

"Multiple Persönlichkeit...? Ist das nicht das wo mehrere Personen einen Körper teilen?"

Aktualisiert: 10. Nov. 2023

Es kommt immer mal wieder zu Situationen in denen wir einem Gegenüber davon erzählen müssen oder mittlerweile möchten, dass wir mit einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS)/Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) lebe/n. Das ist keine angenehme oder selbstverständliche Sache für uns und viele Jahre dachte ich, dass es besser ist mit möglichst wenigen Menschen in meinem Umfeld darüber zu reden und mit viel Energie - von dem wenigen was uns an Energie zur Verfügung steht - so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Denn wenn wir nach außen nicht als "Schwach", "Krank" oder "Gestört" gelten, dann ist es leichter dies auch vor mir selbst zu verbergen und die winzige Flamme, die sich Selbstwert nennt, zu retten.


Wenn ich mit Leuten über die Dissoziative Identitätsstörung spreche, die nicht zufällig an anderen Stellen intensiver mit dem Thema in Kontakt getreten sind, gibt es so einige Vorannahmen und -urteile mit denen wir häufiger konfrontiert sind und die nicht dazu beitragen, dass es einfacher wird, einen offenen Umgang mit diesem großen Teil meines/unseres Lebens zu finden, der offenbar auch dazu zu gehören scheint und sich nicht wegignorieren lässt. Zumindest nicht dauerhaft und nicht ohne dafür wörtlich sein Selbst zu opfern.

Ich möchte von Menschen, die uns wichtig sind, verstanden werden können und es stört mich, dass bei der Erwähnung dieser Störung oft ein Bild vorherrscht, dass für uns (und ich glaube auch für viele andere Betroffene) unpassend erscheint.



"Multiple Persönlichkeit...? Ist das nicht das wo mehrere Personen in einem Körper leben?"


Die Aussage ist nicht komplett falsch, führt jedoch schnell zu falschen Annahmen und stellt die Realität nur unzureichend da. Aber um das tatsächlich (ansatzweise verständlich) erklären zu können muss ich weiter ausholen...


Die Multiple Persönlichkeitsstörung wurde in der neuen 11. Auflage des Internationalen Diagnose Manuals (ICD), welche seit dem 01.01.2022 in Kraft getreten ist, in die Dissoziative Identitätsstörung umbenannt. Unter anderem auch deshalb, weil der Begriff Persönlichkeitsstörung irreführend ist, da es sich nicht um eine Persönlichkeitsstörung im Sinne des ICD10/11 handelt.

Schaut man sich die aktuelle Bezeichnung der Störung an, wird deutlicher worum es eigentlich geht, nämlich um eine dissoziative Störung der Identität.



Dissoziation:


Das Wort Dissoziation (lat. Zerfall, Auflösung, Trennung) stellt das Gegenteil vom bekannteren Wort Assoziation (lat. Verbindung, Vernetzung) da.


In der Psychologie bedeutet Dissoziation, einen teilweisen oder vollständigen Verlust der normalen Integration, von Erinnerungen, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung von unmittelbaren Empfindungen und/oder der Kontrolle des Körpers. (vgl. ICD10, 2019)


Das Ausblenden, bzw. nicht aufnehmen, von bestimmten Reizen im Alltag, zählt genauso wie Müdigkeit, Imagination und Tagträumen nicht per se zu Dissoziation. Viele Menschen versinken z.B. ab und an in Tagträume oder wissen nicht mehr ob sie eben die Haustür abgeschlossen haben und was sie gestern gegessen haben. Dasselbe gilt auch für Strecken, welche man oft fährt und dann manchmal nach dem Ankommen denkt: "Komisch, ich erinnere mich gar nicht an den Weg eben...". Das ist selektive Wahrnehmung und völlig normal.

Der Unterschied zwischen Dissoziation und selektiver Wahrnehmung ist, dass bei einer Dissoziation etwas abgespalten wird, was grundsätzlich noch vorhanden, aber nicht integriert ist. Wohingegen bei der selektiven Wahrnehmung der Reiz gar nicht erst aufgenommen wurde und somit einfach nicht vorhanden ist. Oder etwas schlicht vergessen wurde, was aber nicht noch unverarbeitet im Gehirn vorhanden ist. (vgl. Nijenhuis, et al.)

(Achtung: Es gibt hier auch Kliniker, welche die selektive Wahrnehmung und andere ähnliche Phänomene als "gesunde Alltagsdissoziation" bezeichnen. Dies "zerfleddert", unserer Meinung nach den Dissoziationsbegriff wieder, den u.a. auch Ellert Nijenhuis versucht in seinen Werken zu konkretisieren.)


Dissoziative Symptomkomplexe, gehen laut dem ICD 10 auf unlösbare äußere oder interpersonelle Probleme zurück. Bekannte Diagnosen sind z.B. die Dissoziative Amnesie (ICD10 - F44.0), bei welcher sich (ohne organische Ursache) nicht an aktuelle oder vergangene Geschehnisse erinnert werden kann. Meist nach einem traumatisch erlebten Ereignis. Oder die Dissoziative Bewegungsstörung (ICD10 - F44.4), bei der es oft zu einem (physisch nicht erklärbaren) Verlust der Bewegungsfähigkeit kommt. (vgl. ICD10, 2019)


Mittlerweile herrscht ein großer Konsens unter Klinikern und Forschenden, die sich mit Traumafolgestörungen auseinandersetzen, dass pathologische Dissoziation nicht ohne Trauma entsteht, denn die Dissoziation dient während eines Traumas als Schutzmechanismus der Psyche, der das Überleben sichern soll. Ausgenommen sind natürlich dissoziative Phänomene nach Einnahme bestimmter psychotroper Substanzen und Hirnverletzungen etc.

Dissoziation, also die Abspaltung vom Bewusstsein, sorgt - als natürlicher und gesunder Prozess - während eines Traumas oder einer Schocksituation beispielsweise dafür, dass Schmerzen ausgeblendet werden, um sich Hilfe holen zu können oder dass man das Gefühl hat, neben sich zu stehen und sich zu beobachten, was eine Distanz zu den traumatischen Erfahrungen herstellt und vor einer Überflutung schützt.

Können die Erfahrungen nicht verarbeitet und integriert werden, kann sich dieser Überlebensmechanismus allerdings sehr nachteilig auf das weitere Leben auswirken. (später mehr dazu)


Dissoziative Symptome werden in verschiedene Bereiche eingeteilt. Es gibt sowohl Symptome, bei denen etwas zu einem "normalen" Erleben dazukommt (Positiv-Symptome), als auch Symptome, wo etwas von einem "normalen" Erleben fehlt, bzw. abgekoppelt ist (Negativ-Symptome). Oft treten mehrere Symptome gleichzeitig auf.


Erinnern:

  • Amnesie/Nicht erinnern - ein oder mehrere Zeitfenster im Alltag oder der Vergangenheit werden nicht mehr erinnert;

  • Flashbacks/Intrusionen - von vergangenen (traumatischen) Erinnerungen überflutet werden/Teile der Erinnerung gelangen ungewollt ins Gedächtnis


Körper:

  • Körperflashbacks - Empfindungen, wie z.B. Schmerzen oder andere Körperempfindungen mit Traumabezug werden am Körper wiedererlebt;

  • Analgesie - Schmerzunempfindlichkeit

  • Taubheit

Wahrnehmung:

  • Depersonalisation - der Körper (oder Teile davon) wird u.a. als verändert oder nicht zu sich gehörig wahrgenommen;

  • Derealisation - die Umwelt (oder Teile davon) wird u.a. als verändert, unwirklich, fremd etc. wahrgenommen.


Bewegung:

  • motorische Hemmung und Erstarrung;

  • motorische Unruhe (teil vegetativer Ãœbererregung);

  • Dissoziative Krampfanfälle


Identität:

  • Teile der eigenen Identität haben sich Abgespalten, haben u.a. ein eigenes phänomenales Selbst entwickelt und/oder werden als nicht zu sich gehörig empfunden


Auch einzelne Symptome werden im ICD10/11 als unterschiedlichste dissoziative Störungen beschrieben. Oft treten dissoziative Symptome aber auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie Borderline und Depressionen zusätzlich auf.


Bei einer Dissoziativen Identitätsstörung unterliegt die eigene Identität diesen dissoziativen Vorgängen. Das ganze ist so schwerwiegend ausgeprägt, dass man Teile der eigenen Persönlichkeit als nicht zu sich gehörig empfindet und zwischen den Persönlichkeitsanteilen Amnesien vorkommen. Von der dissoziation der Persönlichkeit gibt es verschiedene Abstufungen. Die DIS stellt ein sehr ausgeprägtes Vollbild, am Ende eines Kontinuums da.



Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit nach Traumatisierung:


Im Folgendem werde ich mich auf die Theorie der Strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit, als Traumafolgestörung von u.a. Ellert Nijenhuis, Onno van der Hart und Kathy Steele beziehen, da sie die Grundlage, für die aktuelle Betrachtung, von dissoziativen Störungen als Traumafolge darstellt und auch meiner Meinung nach verständlich das "Phänomen" DIS erklärt.


Es wird bei der Strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit von einer traumabedingten Entkopplung der Persönlichkeit, in verschiedene parallel existierende Erlebnis- und Gedankenmuster gesprochen, welche unzureichend integriert sind. Hierbei wird in drei Schweregrade unterschieden, die sich auf einem Kontinuum befinden.


Erlebt eine Person ein Trauma - also ein als katastrophales und (lebens-) bedrohlich wahrgenommenes Ereignis - was seine persönlichen integrativen Fähigkeiten, zu diesem Zeitpunkt übersteigt, wird dies nicht wie eine normale Erfahrung im Gehirn abgespeichert. Das Gehirn befindet sich zum Zeitpunkt eines Traumas nicht mehr im Verstand-Modus, sondern im Überlebensmodus, (siehe auch: https://www.seelenpuzzle-dis-gedanken.com/post/spaltung-in-der-gesellschaft-verstehen-ein-anfang)

was die ureigenen reflexartigen Verteidigungssysteme Kampf/Flucht/Erstarren beinhaltet. Dissoziation ist während des Traumas eine Schutzfunktion, welche dabei Hilft, die überwältigende Wahrnehmung von dem Bewusstsein getrennt zu halten, damit sich alles auf das Überleben konzentrieren kann. Die überwältigende Erfahrung kann, in diesem Moment, nicht in allen Qualitäten (wann, was, in welchem Kontext passiert ist und welche Gefühle/Eindrücke damit einhergehen) bewusst werden und bleibt für sich bestehen.


Die unintegrierten Erfahrungsaspekte des Traumas bleiben als sogenannter "Emotionaler Persönlichkeitsanteil" (EP), von einem "Anscheinend Normalen Persönlichkeitsanteil" (ANP) abgetrennt, also dissoziiert.


Der "Emotionale Persönlichkeitsanteil" (EP) enthält die desintegrierten Gefühle, Verhaltensweisen (Kampf, Flucht, Erstarren, Bindungsschrei), körperlichen Empfindungen, sowie Sinneswahrnehmungen, die zum Zeitpunkt des Traumas vorherrschten und bleibt in dieser Trauma-Situation verhaftet. Dieser EP (oder auch mehrere) wird dann im späteren Leben u.a. durch Trigger reaktiviert und die Person erlebt sich wieder (immer noch) in der Trauma-Situation. Dies kann zu den oben genannten dissoziativen und posttraumatischen Symptomen führen.

Sie können grob in kontrollierende EP's (bestimmend, bestrafend, mahnend, etc.) und fragile EP's (bedürftig, schutz- und hilfesuchend, ängstlich, schamerfüllt, etc.) einteilen.


Der "Anscheinend Normale Persönlichkeitsanteil" (ANP) ist darauf fokussiert weiter im Alltag zu funktionieren und ist z.b. für die Bereiche: Arbeit/Schule, Selbstversorgung (Essen, Trinken, Körperpflege), Freizeit, Erholung, Bindung/Liebe/Führsorge, sexuallität zuständig. "Anscheinend Normal", heißt dabei nicht, dass dies auch zur eigenen Zufriedenheit gelingt!!! Oft ist der ANP alles andere als stabil und hat mit den Symptomen zu kämpfen, versucht aber weiter zu funktionieren und eine Fassade aufrecht zu erhalten. Der ANP wird in seinem Handeln, von dem/den EP/'s beeinträchtigt und versucht den/die EP/'s und das Trauma zu vermeiden. Dies wird auch Phobie vor dem Inneren Erleben genannt.


Wird der ANP mit einem Reiz konfrontiert (Trigger), der (unfreiwillig) in einen Zusammenhang mit dem Trauma gebracht wird, werden diese Erfahrungen, die im EP gespeichert sind, durch Wiedererleben, in Form von es passiert hier und jetzt, reaktiviert. Hierbei können einzelne oder mehrere Gefühlsaspekte, Reaktionen (Kampf, Flucht, Erstarren), Bildhafte Erinnerungen, Schmerzen aus der Traumasituation in das Bewusstsein gelangen (Intrusion). Ein vollständiges Hineingezogen werden (in allen Qualitäten) wird Flashback genannt. Achtung: Die beiden Begriffe werden umgangssprachlich oft synonym verwendet - hier nicht.

Trigger können sowohl von außen kommen (Gerüche, Geräusche, visuelle Eindrücke etc.), als auch von Innen, das heißt durch Gedanken, aktuelle Gefühle etc.


Beispiel: Jemand der einen Wohnungsbrand überlebt hat, könnte beim Laufen durch dichten Nebel (Trigger), anfangen Herzrasen und Schweißausbrüche zu bekommen (Reaktivierung vom EP). Obwohl er sich der Tatsache bewusst ist, dass es sich nur um Nebel handelt (ANP), bekommt er das Bedürfnis wegzulaufen (EP), kann es jedoch unterdrücken und fragt sich was das Ganze soll (ANP). Die Person ist noch her der Lage (Intrusion).

Vielleicht ist die Person in einer anderen Situation mit dem Geruch von Rauch konfrontiert und erlebt sich komplett in der damaligen Brandsituation. Er sieht das Feuer in seiner Wohnung (obwohl keins da ist), hat Panik und rennt auf die Straße. Die Person ist nicht mehr her der Lage (Flashback).


Es ist auch möglich, dass die Person die Symptome spürt (Herzrasen, Fluchtreflex), aber keinen bewussten Zusammenhang zu dem Trauma herstellen kann.


Ist die Diskrepanz zwischen der Traumasituation und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten der Person nicht sehr groß, kann das Trauma im Nachhinein von selbst, Stück für Stück, in allen Qualitäten bewusst und damit verarbeitet werden. Andernfalls kommt es langfristig immer wieder (auch zeitlich verzögert im Leben) zu einer Reaktivierung des Traumas im Gehirn und damit einhergehenden weiteren Symptomen wie vegetativer Übererregung, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen (u.a. wegen Albträumen), Vermeidung von Triggern im Alltag und emotionaler Taubheit, mit zeitweiser Überflutung von Gefühlen, was einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD10-F43.1) entspricht. (vgl.ICD10, 2019)


Die Größe der Diskrepanz ist auf der einen Seite abhängig von genetischen Faktoren, der Lebenserfahrung und der Reife einer Person (Resilienz) - Kinder haben z.B. grundsätzlich weniger integrative Kapazitäten als Erwachsene, da ihre Gehirnentwicklung noch nicht abgeschlossen ist -, als auch von der Art eines Traumas. Nicht von Menschen verursachte und Einzeltraumata, z.B. Naturkatastrophen, Unfälle sind potenziell einfacher zu integrieren, als wiederkehrende, chronische und/oder von Menschen (vielleicht sogar Bezugspersonen) verursachte Traumata, z.B. andauernde körperliche-, seelische- und sexuelle Gewalt.

Auch Bindungstraumatisierungen, die entstehen können, wenn Mütter (oder anderen wichtige Bezugspersonen) keine "Sichere Bindung", zu ihrem Kind herstellen können oder Kinder einen ständigen Bindungsabbruch von Bezugspersonen erleben, können eine Dissoziation von eigenen Bedürfnissen und Gefühlen auslösen. Siehe auch: https://www.seelenpuzzle-dis-gedanken.com/post/kindliche-entwicklung-und-trauma



Primäre Strukturelle Dissoziation


Die einfache Aufteilung in ein ANP und ein EP wird primäre Strukturelle Dissoziation genannt und bildet das untere Ende des Kontinuums an Struktureller Dissoziation der Persönlichkeit. Diagnosen sind z.B. Posttraumatische Belastungsstörung, Bindungsstörung, Angst- und Zwangsstörung.


Die Person weiß zu jeder Zeit (zumindest zu einem gewissen Teil) dass sie selbst es ist, die dies erlebt und zwischen den Zuständen schwankt. Der EP wird also als zu sich selbst gehörend (Ich-Synton) wahrgenommen.


In dem Beispiel mit der Person die einen Brand überlebt hat, ist sich der ANP z.B. bewusst, dass Nebel keine Gefahr ist, während sich der EP in der Brandsituation wähnt. Die Person könnte z.B. sagen: "Ich bekomme alles super hin, habe mich um den Wiederaufbau des Hauses gekümmert und alles ist jetzt gut, aber sobald es morgens nebelig auf dem Weg zur Arbeit ist, will ich weglaufen und flüchten und mein Herz fängt an zu rasen. Das ist so schrecklich und es ist doch nur Nebel."



Sekundäre Strukturelle Dissoziation


Reicht zum Überleben eine einfache Aufteilung in ANP und EP nicht aus, besonders bei langanhaltenden, wiederkehrenden und komplexeren Traumatisierungen (auch schwere Bindungstraumata), kommt es zur Desintegration von mehreren EP´s, bei weiterhin einem ANP.

Es bestehen mehrere abgegrenzte Denk- und Handlungsmuster.

Es kommt zu intrusivem Erleben und teildissoziiertem Handeln der EP´s, was typischerweise keiner Amnesie unterliegt. Die EP´s können allerdings sowohl als zu sich selbst gehörend (Ich-Synton), als auch nicht zu sich selbst gehörend (Ich-Dyston) wahrgenommen und erlebt werden.


Beispiel Teildissoziiertes, Intrusives Handeln/Erleben, nachdem EP´s reaktiviert wurden:

Ich-Synton könnte erlebt werden: "Ich möchte niemanden Anschreien (ANP) und mich ganz klein machen, weil ich mich wie ein Kind fühle, dass sich verstecken möchte (EP 1-Flucht), aber dann schreie ich meinen Gegenüber trotzdem an und möchte ihm wehtun (EP2-Kampf). Ich beobachte mich dabei und frage mich was ich da eigentlich mache, kann es aber nicht stoppen (ANP)."

Ich-Dyston könnte erlebt werden: "Ich möchte niemanden Anschreien (ANP). Dann ist da ein Kind in mir, das nicht ich bin, dass sich ganz klein macht und verstecken möchte (EP1). Und dann kommt da was und schreit meinen Gegenüber an und tut ihm weh (EP2). Ich beobachte das und frage mich was da eigentlich passiert, kann es aber nicht stoppen."


Typische Diagnosen sind: Borderline-Persönlichkeitsstörung, komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, dissoziative Störung nicht näher bezeichnet - bzw. partielle dissoziative Identitätsstörung (ICD11), die von mehreren (dissoziativen) psychischen und somatischen Symptomen begleitet sind.


Bei der partiellen dissoziativen Identitätsstörung (pDIS) nach ICD11, kommt es, wie bei einer vollausgeprägten Dissoziativen Identitätsstörung (DIS), zu EP´s, welche über ein ausgereifteres phänomenales Selbst ("Ich bin ich und ich bin nicht du") verfügen und in seltenen Situationen, auch die volle exekutive Kontrolle übernehmen, um begrenzte Aktionen auszuführen, ohne gleichzeitiges Bewusstsein des ANP. Dies führt zu einer Amnesie beim ANP (Volldissoziiertes Handeln). Die Übergänge zum Vollbild einer DIS sind dabei (aber auch bei anderen komplexen Dissoziativen/Posttraumatischen Störungen) fließend.



Tertiäre Strukturelle Dissoziation


Am oberen Ende des Kontinuums kommt es zur Strukturellen Dissoziation von zwei oder mehr ANP´s und mehreren EP´s.

EP´s und ANP´s haben jeweils ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes phänomenales Selbst und können wenig bis sehr unterschiedlich zueinander nach außen agieren und auftreten.

Es kommt u.a. zu komplexen Teil- und Volldissoziierten Handlungen zwischen den Anteilen. Letztere führen dazu, dass Amnesien erlebt werden.

Es kommt oft zu vielfältigen und häufigen (u.a. dissoziativen) psychischen und somatischen Symptomen.

Mehrere ANP´s sind nur bei der vollausgeprägten Dissoziativen Identitätsstörung der Fall!



Dissoziative Identitätsstörung


Es wurde ein starker Zusammenhang, zwischen frühkindlichen, teils massiven, wiederkehrenden, chronischen Traumatisierungen und langfristig fehlender Unterstützung und emotionaler Verfügbarkeit von nahen Bezugspersonen festgestellt, welcher die Ausbildung einer (p)DIS begünstigt.


Ein Erklärungsmodel bezieht sich darauf, dass Menschen, wenn sie geboren werden noch kein "Ich"-Gefühl besitzen.

Bis zum ca. dritten Lebensjahr erleben sich Kinder nicht als "Ich bin ich und das sind die anderen", sondern als Einheit mit ihren Bezugspersonen und lernen erst mit der Zeit, dass Mama und Papa andere Personen sind, die nicht ICH sind. Später lernen Kinder, z.B. dass das Nachbarskind eine eigene Mama hat, dass die eigene Mutter eine Mutter hat, die für einen Selbst Oma ist usw.. Nahe Bindungspersonen unterstützen den Prozess der Ich-Entwicklung, helfen (im Optimalfall) bei einer altersentsprechenden Einordnung (Spiegeln) von Erfahrungen, Bedürfnissen und Gefühlen, in Abgrenzung zu den Gefühlen und Bedürfnissen von Anderen. Das Kind kann so im Laufe der Kindheit ein kohärentes Selbstgefühl entwickeln.


Werden insbesondere frühe und wichtige Phasen der "ICH-Entwicklung" durch äußere, sehr traumatisierende (häufig chronische und/oder sehr Widersprüchliche) Einflüsse massiv gestört und stehen keine Bezugspersonen zur Verfügung, welche dem Kind helfen, sowohl aus der Situation herauszukommen, als auch diese angemessen zu verarbeiten und einzuordnen, kann sich ein einheitliches "ICH" gar nicht erst entwickeln. Das heißt, die Persönlichkeitsanteile werden nicht von einer Gesamtperson abgetrennt, sondern die Gesamtperson hat von vorneherein nicht richtig "zusammenwachsen" können.


So können z.B. ein oder mehrere Anteile entstehen, welche die traumatische Situation (die auch zum Alltag gehört) miterleben, während ein oder mehrere andere Anteile nur die Situationen im Alltag mitbekommt, bei denen es "etwas netter" zugeht, ein Bild nach außen gewahrt werden soll oder die Schule besucht wird.


Wie ein Gesamtsystem an Persönlichkeitsanteilen am Ende aufgebaut ist und wie komplex einzelne Anteile sind - welche Eigenschaften, Gedankenmuster und Emotionen vorherrschen, wie und wann sie aktiv sind und so weiter - ist stark von dessen gemachten Erfahrungen abhängig.

Die Wahrnehmung und Zusammenarbeit der Anteile untereinander fällt innerhalb eines Systems sehr unterschiedlich aus. Es ist möglich, dass A von B weiß, aber B nicht von A; C weiß von A und D; D vielleicht von allen usw. Therapie bei komplexen Dissoziativen Störungen hat immer auch das Ziel, dass sich Anteile besser wahrnehmen, gegenseitig anerkennen, zusammenarbeiten und vielleicht sogar integrieren, sodass sich diese Dinge mit der Zeit auch ändern können.


Die Funktionalität im Alltag kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Einige Systeme können gar nicht alleine Leben und brauchen ständige Betreuung, es gibt aber auch viele "Hochfunktionale-Systeme" die (oft zu einem hohen gesundheitlichen Preis) im erwachsenen Alltag irgendwie nach außen hin klarkommen. Getrieben von sehr funktionsorientierten ANP´s, die eine Ausbildung machen, Studieren, Arbeiten, sich um ihre Kinder kümmern etc.


Ein paar Untertypen von Anteilen, welche sehr häufig (nicht ausschließlich beim Vollbild) in (p)DIS-Systemen vorkommen sind u.a.:


  • Kind (Teenager)-Anteile: Sie sind oft in einer Phase der Kindheit steckengeblieben. Erlangen Kind-Anteile die Executive Kontrolle, kann es dazu kommen, dass die nach außen hin erwachsene Person, wie ein Kind handelt und spricht. Meistens handelt es sich bei Kind-Anteilen auch um Träger von traumatischen Erinnerungen. Sie sind oft auf der Suche nach Schutz, Trost und Hilfe und/oder sind sehr misstrauisch, und ängstlich.


  • Helfer-Anteile/Beschützer: Diese Anteile stellen manchmal den Versuch eines traumatisierten Kindes da, sich selbst zu beruhigen/regulieren und zu trösten. Sie sind manchmal einem äußerem Vorbild (aus der Kindheit) nachempfunden.


  • Verfolgende-Täter-Anteile: Das sind keine Täter, die (aller Hollywood) im Außen Straftaten verüben!!!! Es sind Anteile, welche Botschaften und Kernüberzeugungen von Tätern beinhalten, welche die Anteile, sich selbst oder anderen gegenüber, übernommen (internalisiert) haben.

  • Loyale-Täter-Anteile: Anteile, die Täter lieben oder diese unterstützen. Teilweise können diese Anteile (ohne Wissen von anderen Anteilen) bis in die Gegenwart Kontakt zu Tätern aufrechterhalten.


  • Kämpferische Anteile: Wehren sich teilweise sehr aggressiv gegen wahrgenommene Gefahren und können sich mächtig und unverwundbar fühlen.


  • Schambesetzte Anteile: Bergen oft besonders Schambesetzte Erinnerungen in sich und weden oft besonders gemieden.



Ein häufiger Irrglaube von Außenstehenden ist, dass sie oft denken, es sei super auffällig, wenn ein Persönlichkeitsanteil wechselt, also switcht. Das ist meistens nicht der Fall!!!! Zumindest nicht wenn es sich um Switchen zwischen orientierten Anteilen handelt. Auffällig sind häufiger Kind-Anteile, die (gerade) in Traumazeit feststecken.


Menschen aus unserem sehr nahen Umfeld, die ich gefragt habe, woran sie erkennen, wenn jemand anderes (unauffälliges) da ist, sagen mir häufig Dinge wie: "Es verändert sich die Ausstrahlung und Präsenz.", "Die Mimik und Gestik ist anders.", "Sh. lächelt ganz anders als du und hat einen anderen Gang.", "Ihr verhaltet euch verschieden."


Das Switchen kann sehr unterschiedlich ablaufen, langsam oder blitzartig, teilweise und vollständig sein, mit und ohne (anschließendes) Co-Bewusstsein ablaufen, sich vorher bemerkbar machen (meist bei langsameren Wechseln) oder auch gar nicht. Das ist sehr von der jeweiligen Situation, dem Trigger, den dissoziativen Barrieren zwischen den Anteilen und der Tagesform abhängig. Bei mir merke ich es manchmal, weil ich das Gefühl bekomme nur noch schwammig zu denken und verrückt (sowohl im Sinne von verwirrt, als auch im Sinne von verschoben) zu sein. Manchmal kann ich das dann auch mit Dissoziations-Stopp-Techniken unterbrechen, aber nicht immer. Siehe auch: Vom nicht sprechen können (seelenpuzzle-dis-gedanken.com).

Viele Betroffene (wir auch übrigens) versuchen das Switchen oder andere Auffälligkeiten (wie Erinnerungslücken, widersprüchliches Verhalten und die Folgen etc.) zu verbergen oder zu kaschieren. Bei mir ist es zum Teil immer noch so (je nach Situation unterschiedlich doll), dass ich um jeden Preis versuche das gesamte Ausmaß zu verbergen, selbst vor Menschen die eigentlich von unserer DIS wissen.


______


Also lautet die Antwort auf die Frage vom Anfang: "Multiple Persönlichkeit...? Ist das nicht das wo mehrere Personen einen Körper teilen?":

Ja und nein. Nein, es gibt keine zweite (oder mehr) vollständige, andere Person in einem Menschen alla Hollywood. Aber ja es gibt soweit abgetrennte (dissoziierte) Persönlichkeitsanteile eines Gesamtmenschen, welche ein komplexes eigenes phänomenales "Selbst" besitzen, welches von anderen Persönlichkeitsanteilen abgegrenzt ist und die einzeln die exekutive Kontrolle über das Handeln übernehmen können und sehr konträr zu den anderen Anteilen der Persönlichkeit sein können, aber nicht müssen.

Es ist nur eine andere Sache, als das was oft in Filmen und Romanen draus gemacht wird und was einige Menschen zu der Vorstellung verleitet, dass es voll "Cool" ist, Multiple zu sein.

Ich hoffe dieser Beitrag, trägt dazu bei ein realistischeres Bild dieser Störung, bzw. Persönlichkeitsstruktur zu verbreiten.



Quellen:

ICD10 (2019), "Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen": F44 dissoziative Störungen (Konversionsstörungen); Hogefre AG, Bern

Nijenhuis, E.; Van der Hart, O.; Steele, K. "Das verfolgte Selbst": Das verfolgte Selbst - Google Books

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