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  • AutorenbildKarla B.

Getriggert sein als gesellschaftliches Problem

Aktualisiert: 8. Nov. 2023

Auch wenn wir eine DIS haben und das nicht 100% vergleichbar ist mit jemanden ohne vollabgespaltene und ausgeprägte Teilpersönlichkeiten, haben wir im laufe der Zeit gelernt, dass auch andere Menschen mehr oder weniger abgespaltene Selbstzustände haben.


Das zu verstehen kann dabei helfen zu verstehen, was bei uns in der Gesellschaft falsch läuft, da Menschen immer aufeinander reagieren und im Verstehen der Reaktion bei jedem einzelnen der Schlüssel liegt. Wir denken für andere Menschen könnte es auch Hilfreich sein das Folgende über verschiedene Selbstzustände zu verstehen.


Viele Menschen versuchen anderen ihre Meinung oder ihr "Richtig" aufzuzwingen und laufen damit gegen die Abwehr ihres Gegenübers, weil dieser die Grenzüberschreitung wahrnimmt und sich dann verteidigen oder Rechtfertigen muss... Es beginnt ein ewiger Kampf darum wer mehr Recht hat und beide bewegen sich im Außen, landen im Kampf- oder Fluchtmodus, regen sich über die andere Person auf. Nichts davon gelangt in ihr Inneres. Sie drehen sich im Kreis jeder möchte Recht haben und einige werden gar nicht gehört, weil sie sich nicht verteidigen (können) und stattdessen immer nur sich selbst anpassen (müssen).


Lange Zeit hatte ich hierfür keine Worte. Es war mehr ein Muster was ich wahrnahm und je mehr ich uns verstehe, je mehr verstehe ich und finde Worte um das Muster zu beschreiben, was ich in der Gesellschaft auch wiederfinde. Wahrscheinlich bin ich/sind wir aus dem Drang heraus das verstehen zu wollen auch Ergotherapeutin geworden. Die Ergotherapie beschäftigt sich im Kern mit dem Menschen als "Handelndelndes Wesen".


Aus verständnisgründen möchten wir empfehlen zuvor: "Multiple Persönlichkeit...? Ist das nicht das wo mehrere Personen einen Körper teilen?" (seelenpuzzle-dis-gedanken.com) gelesen zu haben. Wir beziehen uns im Folgenden auch auf die Theorie der strukturellen Dissoziation nach Nijenhuis und möchten diese noch mehr einbetten und ergänzen.


Im Wesentlichen gibt es zwei übergeordnete Handlungssysteme in einem Menschen:


Das Alltagshandlungssystem dient dem Ãœberleben der Art und beinhaltet folgende Punkte des Handelns:


  • Bewältigung von Alltagsdingen (Einkaufen und Arbeit),

  • Energie Verwalten (Pausen, Essen, Bewegung),

  • Bindung (suchen, geben, annehmen),

  • Soziale Interaktion,

  • Entdecken (lernen, ausprobieren),

  • Spiel,

  • Fortpflanzung, Sexualität

  • Führsorge (für sich und andere)


(Aus der Sicht von Nijenhuis stellen Persönlichkeitsanteile mit diesen Funktionen den "Anscheinend Normalen Persönlichkeitsanteil" - ANP da.)


Das Überlebenssystem wiederrum dient der Bewältigung von wahrgenommener Bedrohung durch Abwehrreaktionen wie z.B.:


  • Appeasement/Unterwerfung (Ãœbertrieben eigene Bedürfnisse unterdrücken um es jemanden Recht zu machen)

  • Hypervigilanz (ständig nach Bedrohung ausschau halten - bevor sie da ist, übertriebenes Misstrauen)

  • Flucht (verstecken, wegrennen, Kontakt/Bindung abbrechen, Flucht in Arbeit, Sport, übermäßig schlafen etc.)

  • Kampf (aktive/passive Aggression, Anwendung von Gewalt, Ziel: Dominanz, Kontrolle, Oberhand gewinnen/behalten)

  • Freeze/Erstarren (Hochanspannung die jeder Zeit aus einem aussichtslosen Kampf oder Fluchtverhalten entstehen kann und andersherum)

  • Bindungsschrei (Bindungsbedürfnis was plötzlich übergroß und dringend wird, Klammerverhalten)

  • Shutdown (Dissoziation, Amnesie)

  • Erholung (Rückzug, tiefer Schlaf - wie Wunden lecken nach dem Schreck)


(Diese Persönlichkeitsanteile sind nach Nijenhuis eher den "Emotionalen Persönlichkeitsanteilen" - den kontrollierenden und teilweise fragielen EP's zugeordnet)


(vgl. Theresa, 2021)


Im Optimalfall laufen diese Systeme unauffällig nebeneinanderher. Bei echter aktueller Gefahr schalten Lebewesen dann in den Überlebensmodus und kehren anschließend in den Alltagshandlungsmodus zurück. Dies funktioniert ohne Brüche und wird von der Umwelt häufig als angemessenes Verhalten angesehen.


Werden wir wiederholt oder sehr stark Traumatisiert oder wachsen nicht sicher gebunden zu unseren Bezugspersonen auf, dann kann sich das Zurückgreifen auf unser Überlebenssystem chronifizieren und wir reagieren in unserem Leben bei Stress und angetriggerten Traumaerinnerungen unangemessen stark und schnell mit Hilfe von Abwehrreaktionen anstatt im Alltagshandlungssystem zu bleiben. Wir verlieren immer mehr den Kontakt mit unserem Inneren und versuchen alles was mit dem Schmerz zu tun hat, der dabei auch immer auftaucht, mithilfe von Abwehr unter Kontrolle zu bringen, während der Alltagshandlungsteil das Ignoriert und davor auf der Flucht nach Außen ist.


Als Mensch sind wir so strukturiert, dass wir uns unangenehmes möglichst fern halten wollen. Ein ANP lebt den Alltag und zeigt eine Ignoranz gegenüber unangenehmen Gefühlen von EP´s die das Trauma tragen - sogenannten "Fragilen EP´s" oder "Traumatisiertes-Ich". Die sollen möglichst dem Bewusstsein fern bleiben (Verdrängung) und wir versuchen sie durch die sog. Kontrollierenden EP´s die sich der gelernten Abwehrreaktionen bedienen unter Kontrolle zu bringen, damit die Alltagshandlung davon unbeeindruckt weitergehen kann.

Nijenhuis hat darüber eine Buchreihe geschrieben: "Die Trauma-Trinität: Ignoranz - Fragilität - Kontrolle"


Leider sind die chronisch aktiven Abwehrsysteme, dieser Schutzmechanismus, hinderlich um auf normale Situationen im Alltag angemessen reagieren zu können. Betroffene finden sich häufig in Konflikten wieder und können aus ihrem ANP-Verstand heraus gar nicht begreifen, was da im Hintergrund mit den Fragilen und Kontrollierenden EP´s geschieht. Sie wundern sich entweder ständig über sich selbst oder sehen immer wieder das Außen/die Anderen in der Schuld... Sie reagieren ja nur auf das Außen....

Sie merken nicht, dass das was sie da bekämpfen oder das wovon sie davonlaufen in der Vergangenheit liegt und die überstarken Gefühle die das macht ebenfalls aus einer anderen Zeit kommen.


Pierre Janet stellte schon vor ca. 120 Jahren fest: "Wer ein Trauma nicht realisiert, ist gezwungen es zu wiederholen oder zu reinszenieren."

Menschen wollen ein Trauma immer verarbeiten, gelingt uns das nicht stecken wir in einem Annährungs- und Abstoßungskreislauf fest, der gezwungen ist sich immer zu wiederholen. Wir wollen ein gutes Ende für das Trauma. Wir wiederholen es, weil wir einen anderen Ausgang herbeisehnen.

Betroffen sind dabei die Situationen mit einem Bezug zum Trauma.


Nach unverarbeiteten Beziehungs-/Bindungstraumatisierungen unterliegen z.B. ganz natürlicherweise die Beziehungen und Bindungen zu unseren Mitmenschen (Partner, Freunde, Familie, Kinder) dieser Dynamik aus der Annährung, dem Getriggert werden und den darauf folgenden Abwehrreaktionen um sich selbst Kontrolle wiederherzustellen und den alten Schmerz zu unterdrücken oder gar nicht erst entstehen zu lassen.

Dieses Verhalten führt allerdings dazu dass sich immer wieder selbst bestätigt wird, dass die Welt ein schlechter Ort ist oder man selbst zu nichts in der Lage. Man stärkt damit die eigene Erwartung für die nächste Situation und ist nächstes Mal lieber noch mehr auf der Hut um noch eher auf wahrgenommene "Bedrohung" reagieren zu können. Alle Antennen sind auf Gefahr ausgerichtet. Bei der kleinsten Gefahr mit dem befürchteten Schmerz (der Vergangenheit) in Kontakt zu kommen, fährt das Verteidigungssystem hoch und reagiert als würde es ums Überleben gehen.



Das Gegenüber reagiert natürlich auch auf diese Wucht und dann geht es los und beide Parteien ringen miteinander oder es wird der Kontakt abgebrochen oder sich anderer Überlebensstrategien bedient. Die eigene Prophezeiung hat sich erfüllt und weiter verstärkt.

Würde man das nicht tun, würden man vielleicht mit dem (alten) Schmerz in Berührung kommen und das vermeiden wir evolutionsbedingt am liebsten um weiter Handeln zu können. Dadurch entsteht ein Kreislauf, bei welchem wir unser Trauma auch an andere Weitergeben, weil unser Verhalten natürlich auch unsere Gegenüber beeinflusst.


Menschen die so durchs Leben gehen handeln nicht mehr überwiegend im Alltagshandlungssystem sondern entwickeln eine Art "Überlebens-Ich", welches im "Kontroll- und Überlebensmodus" feststeckt und welches für uns im Alltag an unserem gesunden Selbst vorbeihandelt und zum Ziel hat das "Traumatisierte-Ich" zu unterdrücken.


Der ANP ist oft mit sich und der Welt unzufrieden, weiß nicht genau warum und sucht die Schuld permanent im Außen oder bei sich selbst. ANP´s sind oft auf der Suche nach Nähe, Geborgenheit und einem besseren Leben. Sie möchten einen "gesunden Ich-Zustand" mit angemessenen kognitiven, emotionalen und sexuellen Verhaltensweisen kreieren, sind aber Phobisch gegenüber den traumatisierten/fragilen "Ich-Zuständen" und dem Kontrollverhalten selbst "ausgeliefert".


Für ein Umfeld, aber auch für einen Selbst ergibt das ein unverständliches Gesamtverhaltensmuster, dass einen Verwirren und Verunsichern kann. Und was macht man wenn man verunsichert und verwirrt ist? Natürlich, man versucht Sicherheit durch Kontrolle herzustellen und so weiter....


Ich habe das Gefühl unsere Gesellschaft ist an sich tief Bindungstraumatisiert und blind dazu verdammt sich selbst auf Kosten der Anderen zu verteidigen. Anstatt, dass sich jeder einfach erst einmal damit beschäftigt wo der eigene Schmerz ist, fügen wir uns lieber gegenseitig Schmerzen zu.

Wir könnten auch ohne Grenzen zu überschreiten andere Inspirieren, anstatt ihnen Meinungen aufzudrücken und Abwehrreaktionen entgegenzuhalten.

Inspiration ist eine Saat die aufgehen kann, weil sie im Gegenüber zu etwas neuem und besserem Reifen kann. Wir erinnern uns: "Jeder Mensch Handelt für sich immer mit dem Bestem was ihm in der individuellen Situation zur Verfügung steht."

Ratschläge hingegen sind Maßregelungen und Verhaltensanweisungen, die nicht dazu dienen den Anderen zu stärken, sondern sein Verhalten so anzupassen, dass man es selbst sehr bequem hat und nicht mit seinen eigenen "Störgefühlen" und Schmerzen in Kontakt kommt. Wir müssen als Gesellschaft begreifen, dass wenn uns unser Gegenüber oft massiv stört, dass das mehr mit einem selbst als mit dem Gegenüber zu tun hat.


Oft stören uns die Dinge am meisten mit denen wir selbst die größten Probleme haben. Beispiel: Jemand der sehr viel Raum um sich herum beansprucht kann sich eher daran stören, wenn jemand das selbe tut. Gleiches gilt für Menschen die sehr wenig Raum einnehmen und dann nervös werden wenn ihr Gegenüber das nicht für sie übernimmt.


Wäre man sich seiner Selbst sicher, wäre das beides kein Problem.

Dann könnten wir entspannt Raum geben oder auch füllen und die andere Person inspirieren das vielleicht ebenfalls tun zu können. Wir müssen nicht permanent im Überlebensmodus verweilen wir können der immer gleichen Abfolge einen Schritt hinzufügen und inne Halten vor der Reaktion. Wir können Prüfen ob und wenn ja welche Abwehrmechanismen getriggert wurden. Dann können wir prüfen was dazu geführt hat und ob die Reaktion von uns darauf angemessen ist.

Sind wir Profis darin inne zu halten, dann können wir uns auch ansehen welche Gefühle in der Situation hochgekommen sind und was wir damit eigentlich verbinden. Wir können die Frage klären, warum wir so handeln wie wir handeln und es verändern.



Quellen:

Theresa (2021), DIS-SOS - "Handlungssysteme und dissoziative Anteile der Perönlichkeit", Zugriff am: 24.10.2023 unter:

Nijenhuis, E. (2019), "Die Trauma-Trinität": Die Trauma-Trinität: Ignoranz – Fragilität – Kontrolle - Google Books Nijenhuis, E.; Van der Hart, O.; Steele, K. "Das verfolgte Selbst": Das verfolgte Selbst - Google Books



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