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  • AutorenbildKarla B.

Kindliche Entwicklung und Trauma

Aktualisiert: 16. Nov. 2023

Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich einmal nicht auch auf physische oder sexuelle Gewalt beziehen, weil ich denke, dass der rein emotionalen Gewalt häufig ein zu geringer Stellenwert zugeschrieben wird. Sexuelle und körperliche Gewalt, die von Bezugspersonen ausgeht, geht natürlich auch mit massiven Bindungsstörungen einher. Hier ist der Begriff Trauma allerdings unumstritten...


In der Fachwelt ist man sich etwas uneins darüber, ob Bindungs- und Entwicklungstraumatisierungen wirklich als Trauma bezeichnet werden sollten oder doch eher als prägende Kindheitserfahrungen klassifiziert werden. Als Begründung wird oft angeführt, dass sich der klassische Traumabegriff auf ein Schocktrauma bezieht. Auch in der ICD10 wurde Trauma beschrieben als: "...ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde" (ICD-10) Dazu zählen hier z. B. Naturkatastrophen oder menschlich verursachtes schweres Unheil – man-made disaster – Kampfeinsatz, schwerer Unfall, Beobachtung des gewaltsamen Todes Anderer oder Opfersein von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung, Misshandlungen oder anderen Verbrechen.


Der Fokus liegt hier ganz klar auf umgrenzte Geschehen, kürzerer oder längerer Dauer, welche sich als Verbrechen, Unglück oder Katastrophe klar nach außen darstellen. Dieser Blickwinkel berücksichtigt nicht die besondere Lage in der sich Kinder befinden.

Auch bei den Auswirkungen wird bei der einfachen PTBS und teilweise auch bei der komplexen PTBS, davon ausgegangen, dass zuvor eine ausgereifte Persönlichkeit vorlag und dass das Trauma darauf einwirkt und diese ggf. auch langfristig (komplexe PTBS) verändert.


Ich/wir finde/n das sehr eng gesehen.


Schlechte/seelisch gewaltätige Erziehung, emotionale Vernachlässigung und eine fehlende, unzuverlässige oder chaotische Bindung zu seinen Kindern zu haben ist kein Verbrechen und keine Naturkatastrophe. Sie hat kein klaren Anfang und kein Ende. Sie trifft auch nicht auf eine schon bestehende Persönlichkeit und verändert diese. (Wie soll sie auch die Persönlichkeit konnte sich ja noch gar nicht voll entwickeln.) Aus erwachsenen Sicht besteht vielleicht nicht einmal die Auffassung, dass dies zu einer tiefen Verzweiflung führen kann, schließlich werden diese Kinder nur in extremen Fällen auch unter einem klassischen Schock, wie bei einem Schocktrauma, stehen.


Allerdings hat dies sehr wohl und teils auch gravierende Auswirkungen auf das Kind und den späteren Erwachsenen. Oft ohne das die erwachsene Person das aktiv mitbekommt.


Wir sind der Auffassung, dass die Bindung so essenziell für ein Kind ist, dass es sich ohne sichere Bindung (z.B. weil das Bindungsverhalten der erwachsenen Person chaotisch, also nicht verlässlich ist) permanent in einem Bedrohungserleben wiederfindet. Es muss permanent befürchten alleine dazustehen. Evolutionär gesehen bedeutet das ein Todesurteil für das Kind. Es ist schlicht nicht alleine Überlebensfähig. Es gibt in der Medizin auch den Begriff, dass menschliche Babys als: "physiologische Frühgeburt" bezeichnet werden. Das sagt aus, dass Menschenkinder im Gegensatz zu vielen anderen Tieren (auch Säugetieren) sehr unfertig und unselbstständig zur Welt kommen. Ein Fohlen zum Beispiel kann schon nach kurzer Zeit laufen und kann selbstständig zur Mutter zum trinken kommen. Ein Mensch kann das nicht. Es ist so wie auch einige andere Tiere noch essenzieller auf die Aufmerksamkeit der Mutter (oder andere umsorgende Bindungspersonen) angewiesen.


Kinder sind also per se Abhängig von ihrem Umfeld und sie können es nicht einfach verlassen. Kinder müssen mit dem zurechtkommen was sie vorfinden und sie haben gerade in den ersten Lebensjahren keinen Vergleich, sie besitzen keinen Maßstab dafür, ob das was mit ihnen passiert gut oder schlecht ist, ob es anderen Kindern anders geht etc. Sie können sich nicht einfach nach außen wenden und sagen: "Hey hier gibt es ein Problem." Sie können das "Problem" nicht begreifen. Sie werden weinen und quengeln und so versuchen auf ein Problem aufmerksam zu machen. Wird das nicht beantwortet oder gestraft sind sie Hilflos und sie können die Situation nicht von Außen ändern.

Stattdessen passen sich Kinder bestmöglich ihren Eltern und der Situation an.


Kleine Kinder besitzen noch kein vollausgeprägtes "Ich" und "Du" Konzept. Dieses lernen sie, ebenso wie das Konzept von "Richtig und Falsch" von ihrer Umwelt, primär von den Eltern. Es kommt meistens nicht so sehr darauf an was die Eltern hier aktiv beibringen wollen, sondern darauf was vor- und mit den Kindern gelebt wird. Kinder sehen das Verhalten und besonders die Reaktion ihrer Bezugspersonen als den Maßstab an nach dem etwas "Richtig oder Falsch" ist. Nachdem sie selbst "Richtig oder Falsch" sind.


Bekommt ein Kind nicht die emotionale Zuwendung die es braucht, bzw. interessiert sich niemand ernsthaft für seine Gefühle, Gedanken, Wünsche erzeugt das bei diesem eine mächtige innere Leere, Einsamkeit, Angst, Wut und auch Scham. Es erlebt vielleicht Gleichgültigkeit, unerbittliche Kritik und volle elterliche Wut. Bitten um Aufmerksamkeit werden vielleicht verachtet, ignoriert und gestraft.

Es nimmt so die Welt als furchterregenden Ort wahr.


Ein Kind kann nicht erkennen, dass das Verhalten der Eltern falsch ist. Es wird immer davon ausgehen, dass die eigenen Bedürfnisse falsch sind und es an ihm selbst liegen muss. In ihm wird der Eindruck entstehen: "Die Eltern sind im Recht. Es ist falsch um Hilfe und Aufmerksamkeit zu bitten. Das ist etwas wofür ich mich schämen muss. Wenn ich um etwas bitte dann tut es weh, das werde ich zukünftig nicht wieder machen." Daraus kann sich ein Perfektionismus entwickeln: "Ich muss noch viel besser in allem werden, dann wird alles gut." (Stichwort: "innerer Kritiker").


Würde ein Kind dauerhaft fühlen, dass es wütend, verletzt, hilflos und eigentlich hilfsbedürftig in diesem System gefangen ist, könnte es seine Eltern damit verärgern, denn Aufmerksamkeit wollen/brauchen ist ja schlecht. Die Eltern zu verärgern könnte dazu führen die letzte Führsorge entzogen zu bekommen, was tödlich wäre.

Der einzige Weg besteht für das Kind darin das eigene "Opfer-sein" und damit einhergehende Gefühle zu verdrängen und später vielleicht sogar zu verläugnen (Siehe die vielen vielen Aussagen von Erwachsenen: "Ach so ein bisschen XYZ hat mir auch nicht geschadet, aus mir ist ja auch was geworden...") Wenn nicht käme all der erlittene Terror und die schmerzhaften Gefühle von den emotionalen Anteilen nach oben.

Stattdessen übernehmen diese Kinder oft die erfahrenen Werte der frühen Bezugspersonen in sich selbst. Das Kind übernimmt das Denken und Verhalten der vorlebenden Personen und identifiziert sich damit.


Bei einer DIS werden Persönlichkeitsanteile die viel davon aufgenommen haben und in sich tragen oft als Täteranteile bezeichnet und das Vorhandensein solcher Anteile wird oft von außenstehenden Personen (aber auch von Betroffenen selbst) als total gruselig und/oder spannend betrachtet. Dabei stecken in jedem Menschen Abbilder der eigenen prägenden Bezugspersonen, dafür bedarf es keiner DIS. Der Unterschied ist auch hier wieder darin zu finden, dass bei einer DIS diese Anteile nicht wie normalerweise in die Gesamtperson integriert wurden und sich in dessen Folge zu "eigenständigen" Persönlichkeiten weiterentwickelt haben.


Durch diese frühen Erfahrungen emotionaler Gewalt werden Kinder gezwungen wie die Täter/Bezugspersonen zu denken, zu fühlen und im schlimmsten Fall sie zu imitieren.

Sie übernehmen das Kinder- und Menschenfeindliche Wertesystem, welches sie kennen gelernt haben. Sie richten es weiter gegen sich selbst oder auch gegen andere, um sich selbst auch mal in der machtvollen Position zu erleben. Und sie sind ja scheinbar im Recht, sie tun ja das was ihrem Wertesystem entspricht und ihnen beigebracht wurde.


Die Opfer- (fragile EP´s) und Täteranteile (kontrollierende EP´s) interagieren miteinander. Sind Opferanteile in Not (durch Trigger), dann sind es auch die Täteranteile, welche die Opferanteile zum Schweigen bringen wollen. Das ganze passiert natürlich auf die Art die uns beigebracht wurde: Zum Beispiel könnte der Täteranteil sagen: "Ach heul doch nicht du Memme!" oder klassisch: "Ein Indianer kennt keinen Schmerz!" und denken: "Wenn du weinerlich und schwach bist wird alles nur noch schlimmer." Das ganze findet sowohl gegenüber sich selbst, als auch gegenüber anderen Personen statt. Vielleicht sagt so jemand nicht, dass man nicht heulen soll, aber wird innerlich sauer oder denkt schnell, dass das manipulatives oder aufmerksamkeitssuchendes Verhalten ist, was abgelehnt werden muss oder fühlt sich einfach nur total unwohl und Hilflos, weil kein angemessenes Verhalten erlernt wurde. Wie auch immer...


Ausführlicher haben wir diese Dynamik im Beitrag: Getriggert sein als gesellschaftliches Problem (seelenpuzzle-dis-gedanken.com) beschrieben. Falls die Begriffe fragile und kontrollierende EP´s nichts sagen ist das auch die Gelegenheit: "Multiple Persönlichkeit...? Ist das nicht das wo mehrere Personen einen Körper teilen?" (seelenpuzzle-dis-gedanken.com) zu lesen.


Natürlich sind Menschen im stetigen Wandel und man kann diese Erfahrungen auch noch ausgleichen, indem man im späteren Leben andere Lernerfahrungen macht, aber das was uns in der Kindheit mitgegeben wird ist erst einmal der Grundstock mit dem wir in unser eigenes Leben starten und auf welchen wir im Zweifel schnell zurückgreifen werden.


Menschen die ein Schocktrauma erleben beschreiben häufig, dass ihr Leben im Anschluss nicht mehr das Selbe sei. Sie können benennen was sich geändert hat. Sie haben ein Konzept von einem anderen Dasein. Ein Konzept von einem Davor und einem: "Da will ich wieder hin, weil das war besser". Menschen die von Bindungstraumatisierungen (und anderen Gewaltformen in der Kindheit) betroffen sind haben das nicht. Es wird kein: "Da will ich wieder hin, das war besser." geben. Ihr Konzept von Leben besteht darin, dass die Welt so ist, wie sie selbst sie in ihren frühen Jahren kennengelernt haben. Viele gehen durch ihr ganzes Leben und merken nicht einmal, dass es auch andere Konzepte gibt, dass es mehr geben könnte als das was sie schon kennen. Sie suchen auch nicht danach. Häufig sind sie sehr damit beschäftigt die Schuld im Gegenüber zu suchen oder sich auf Dauer selbst mit den alten "Erziehungssätzen" zu geißeln.


Manchmal stimmt mich das sehr nachdenklich und ich bin froh, dass wir auf dieser Suche sind. Ich bin froh darüber, dass wir andere Konzepte kennengelernt haben und mittlerweile überhaupt ein eigenes Konzept davon haben wo es hingehen soll. Man kann sich schlecht etwas Konkretes für die Zukunft wünschen oder auch nur vorstellen, wenn man das Konkrete gar nicht erfassen kann. Besser soll alles werden, aber was und wie sieht das aus? Das ist so oft die Frage.




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