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  • AutorenbildKarla B.

Erfahrungswissen als Ressource / Fachtag "Aus unserer Sicht"

Aktualisiert: 26. Nov. 2023

Vorgestern waren wir auf dem digitalen Fachtag von "Aus unserer Sicht". Dies ist ein Bundesweites Betroffenennetzwerk von und für Betroffene von sexuallisierter Gewalt in Kindheit und Jugend und befindet sich noch in der Gründungs- und Aufbauphase.

Wir finden es Großartig, dass von Seiten der Gründer*innen sehr viel Wert darauf gelegt wurde, dass sich jede betroffene Person von Anfang an beteiligen und aktiv mitbestimmen kann, in welche Richtung sich dieses Netzwerk entwickelt. Anfang des Jahres konnten Betroffene dafür einen ausführlichen Fragebogen ausfüllen und Ideen/Erfahrungen einbringen. Nach deren Sichtung gab es die Möglichkeit an Austauschgruppen zu verschiedenen Schwerpunktthemen teilzunehmen. Auf dem Fachtag wurden diese noch einmal vertieft und über den weiteren Weg des Netzwerkes informiert.

Besonders wertvoll empfanden wir den Austausch zu dem Thema "Im Hilfesystem arbeiten und selbst Betroffen sein".


Wir waren unter unserem Pseudonym da, aber wir haben Stimme und Gesicht gezeigt. Vor ein paar Jahren wäre selbst das für uns eine zu große Hürde gewesen.

Es ist das aller erste Mal, dass wir uns vernetzen (wollen) und das Gefühl haben uns nicht mehr so verstecken zu müssen. Wir wollen etwas ändern. Für uns, aber auch für alle die leider nach uns kommen.


Früher dachten einige von uns es sei eine gute Idee Ergotherapeutin zu werden um etwas aktiv im Hilfesystem ändern zu können, um es besser zu machen, doch das gelang uns nicht. Zumindest nicht in dem Kontext den wir versucht haben. Wir konnten unser Erfahrungswissen auf der Arbeit nicht verwenden. Das lag einmal nicht primär daran, dass wir darauf nicht zugreifen konnten, sondern daran, wie die allgemeine Haltung der Kollegen gegenüber seelischen Erkrankungen und selbstbetroffenem Personal war. Diese war eher abwertend, stigmatisierend und das trotz dessen, dass wir in einer psychosozialen Einrichtung arbeiteten, in welcher psychisch schwer erkrankte Menschen leben und es das Ziel ist diese wieder in die Gesellschaft einzugliedern.


Eine Kollegin sagte Sätze wie: "Ich würde nie ein Kind adoptieren. Die sind ja von Anfang an so verkorkst, aus denen werden doch nur wieder die nächsten Drehtürpatienten in der Psychiatrie." oder "Einmal psychisch Krank immer psychisch Krank". Ein anderer Kollege gab folgende Vorurteile zum besten: "In meiner Ausbildung waren so viele mit eigenen Erkrankungen, ich finde nicht, dass das zugelassen sein sollte. Die sind doch gar nicht belastbar und belasten dann nur ihre Kollegen. Die können dann überhaupt nicht unbefangen sein und übertragen alles von sich auf die Klienten. Die wollen sich doch nur selbst Therapieren." etc.

Also schwiegen wir über unseren Hintergrund. So wollten wir nicht gesehen werden und wir wollten verhindern, dass uns die erworbene Fachexpertise mit einem Outing aberkannt werden würde. Was hätten wir auch sagen können? Wir sind betroffen? Wir sind traumatisiert? Wir wurden als Kind missbraucht? Wir haben u.a. deshalb eine DIS entwickelt? Wir waren schon mehrfach in Kliniken deswegen und sind laufend in ambulanter Behandlung? Ja wir haben mit Auswirkungen zu kämpfen, aber wir können trotzdem etwas leisten?

Die Dissoziative Identitätsstörung exestierte, wenn überhaupt an dessen Existenz geglaubt wurde, auch in den Köpfen der Kollegen nur als seltene Störung, die sehr Auffällig sei und dazu führe, dass man gar nichts mehr selbstständig hinbekommt. Oder als Störung in welcher es darum ginge möglichst viel Aufmerksamkeit zu bekommen, zu Schauspielern oder keine Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen zu wollen etc.


Manchmal hatten wir das Gefühl, dass einige der in der Einrichtung lebenden Personen auch eine DIS haben könnten und die nur nie diagnostiziert wurde. Sie waren dort unter Diagnosen wie Schitzophrenie oder Persönlichkeitsstörung. Als jemand von uns das ansprach wurde das jedoch gleich weggewischt und auch nicht weiter verfolgt. Was wüssten wir als Berufsanfänger schon davon, das gibt es nicht oder das sähe doch ganz anders aus.


Wie auch immer, es waren schlechte Grundvorraussetzungen als Einzelkämpferin. Es entstand in uns der Eindruck, dass wir "falsch" sind und unser "falsch" sein verbergen müssten, damit wir eine Berechtigung haben mitzureden.

Vielleicht waren wir auch nicht alleine im Team und es ging anderen auch so, aber das können wir nicht sagen, da sich in diesem Klima auch niemand sonst geoutet hatte.


Gestern durften wir die Erfahrung machen, dass es nicht nur uns so ging/geht. Es waren so viele Menschen bei dem Fachtag, die auch in sozialen, medizinischen, therapeutischen Berufen arbeiten und ihr Erfahrungswissen auf der Arbeit verstecken müssen, weil sie Angst davor haben deshalb von Kollegen diskriminiert zu werden oder sogar ihren Job zu verliernen. Es wurde in den Arbeitsgruppen immer wieder betont, dass wir, die wir Opfer von sexuallisierter Gewalt geworden sind, werder kriegerische Überlebende sind, die nichts mehr juckt, noch kleine, arme und dauerhaft bemitleidenswerte Opfer. Wir sind so wie jeder andere auch Menschen mit vielen Fassetten, mit Fähigkeiten in denen wir gut sind und welchen die uns nicht liegen. Vielleicht können wir nicht alles so machen, wie wenn wir nicht betroffen wären, aber es gibt auch viele Dinge die wir gerade deshalb manchmal auch besser können.


Ich glaube, dass es für nicht Betroffene zum Beispiel unheimlich schwer ist die Welt aus der perspektive von Betroffenen zu betrachten. Jeder betrachtet die Welt aus seinem eigenen Erfahrungsschatz herraus und Handelt danach wie man die Welt verstanden hat. Betroffene von Gewalt und daraus resultierenden Folgen machen in dieser Welt, auch über die Gewalterfahrung an sich, andere Erfahrungen als nicht Betroffene. Nicht Betroffene kommen vielleicht nie in die Situation zu erleben wie es ist in eine Klinik zu kommen, wie es ist sich mit teils nicht offen sichtbaren Einschränkungen einen Grad der Behinderung zu erstreiten, wie es ist für sich immer wieder selbst eintreten zu müssen, wenn der Selbstwert eigentlich am Boden ist und dabei auch noch auf die Vorurteile und Ablehnung von Außen zu treffen, wie es ist die ganze Nacht von Albträumen geplagt gewesen zu sein, zu kotzen und dann trotzdem zur Arbeit zu gehen, wie es ist wenn einem nicht geglaubt wird oder jemand anderes deine Probelme für dich kleiner oder größer redet, wie es ist auf ein System angewiesen zu sein, was einen nicht oder kaum verstehen und nachvollziehen kann und das in einer Welt die das noch weniger kann und oft auch nicht will.


Wir finden, dass Erfahrungswissen einen werthaften Stellenwert im Hilfesystem verdient hätte. Nicht um damit das Fachwissen zu deskreditieren oder herabzustufen, sondern als Ergänzung zu diesem und als Erweiterung der Blickwinkel und daraus resultierenden Handlungen mit denen Betroffenen begegnet wird.


Wir leben in einem System, was sich mit Inklusion brüstet und dann trotzdem von oben herab mit Betroffenen umgeht und eine Trennung vollzieht zwischen "Das sind die gesunden Helfer" und "Das sind die kranken Patienten, denen wir Helfen müssen".

Helfende reden von partizipation und self empowerment, vollziehen jedoch eine Grenze zu den "eigenen Reihen". Eigentlich soll alles schön getrennt bleiben, auf der einen Seite die "Starken" und auf der anderen die "Schwachen", denen geholfen werden muss. Mit "auf Augenhöhe sein" hat das gar nichts zu tun. In dieser Gesellschaft wird verlangt sich für eine Seite zu entscheiden. Betroffen oder Helfend. Du bist beides? Nein das geht nicht...


Ich kann oft nicht umhin festzustellen, dass dieses Konstrukt immer wieder Ähnlichkeiten mit einem dissoziativen System aufweißt...


Wir arbeiten immerhin langfristig gesehen an einer Inklusion in uns selbst. Wir sollen lernen, dass wir zusammengehören und voneinander abhängig sind. Auch für uns ist es schwirig keine Vorurteile voreinander zu haben. Zu akzeptieren, dass die "Starken" in uns ohne die Erfahrung der Anderen ihre Schwächen haben und die "Schwachen" viel stärker sein könnten mit den vermeintlich Starken an ihrer Seite. Und nur weil es einige von uns sehr stört, dass es Persönlichkeiten in uns gibt, die Gewalt direkt erfahren haben und/oder immernoch darin feststecken, sollten wir sie nicht übergehen und versuchen dauerhaft auszublenden. Am Ende sind die Kosten für beide Seiten erfahrungsgemäß immer um ein vielfaches höher, als wenn wir uns versuchen ihrer anzunehmen, wirklich zuzuhören und sie als ein Teil von uns und unserem Sein anzuerkennen, auch wenn es schmerzt und keiner was damit zu tun haben will.

Zusammen könnten wir auf alle gemachten Erfahrungen zugreifen und für jeden einzelnen den Horizont an Blickwinkeln und Handlungsmöglichkeiten erweitern.

So weit sind wir noch nicht, aber wir haben in einigen Teilen zumindest verstanden, dass es wichtig ist auch von denen zu lernen, die wir von uns selbst, aus den verschiedensten Gründen, möglichst weiterhin getrennt halten wollen. Es bringt ja auch nichts... Sie sind ja trotzdem da... Weder verschwinden sie wenn wir sie ignorieren noch sorgt es dafür, dass sich irgendwann einmal etwas bessert...


Wir würden auch gerne wieder ein paar Stunden die Woche arbeiten, aber wir wollen uns in der Hinsicht "Betroffene oder Ergotherapeutin" nicht mehr trennen (lassen). Wir sind halt einfach beides. Wir bringen Erfahungswissen und die Expertise einer Ergotherapeutin mit oder es wird für uns nicht mehr der richtige Ort sein.


Der Austausch auf dem Fachtag gab uns so etwas wie eine Hoffnung darauf, dass wir zusammen mit anderen Menschen, denen es ähnlich geht, etwas bewirken können. Wir hoffen, dass es ab nächstem Jahr vielfälltige Möglichkeiten geben wird sich im und über das Netzwerk einzubringen und aktiv zu werden. Seite an Seite mit anderen Betroffenen müssten wir alle keine Einzelkämpfer*innen mehr sein.

Einer Person kann man noch aus dem Weg gehen und dessen Erfahrungen als Einzelschicksal oder

-meinung abtun. Bei Vielen ist das nicht mehr so leicht möglich.


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Webseite von "Aus unserer Sicht": Aus unserer Sicht (aus-unserer-sicht.de)

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