Von vielen traumatisierten Menschen - mit und ohne dissoziativer Identitätsstörung - höre ich, dass sie, wie ich/wir, im Alltag und in Bezug auf z.B. inneres Erleben und traumatisches mit chronischer Scham zu kämpfen haben.
Je mehr ich mich dem Thema (und auch den anderen Anteilen in mir) u.a. auch in meiner Therapie widme, desto mehr verstehe ich wie Scham mich im Alltag beeinflusst und auch das Vorankommen auf den inneren und äußeren Baustellen beeinträchtigt. Und es scheint, auch wenn ich mir mittlerweile darüber bewusst bin das Scham eine große Rolle spielt, keinen Schalter zu geben, der sich einfach umlegen lässt, um diese abzustellen.
Mit dem fühlen von Scham ist das so eine Sache, schon über Scham zu reden kann schließlich gleichzeitig für neue Scham sorgen... Es hört für mich gefühlt nicht auf überhaupt da zu sein, es ist mal schwächer und mal stärker, aber es scheint einfach ständig aufzutauchen und uns bei vielem was passiert und dem was ich tue, sage und denke zu begleiten. Es führen so viele gegensätzliche Dinge zu Scham, dass ich manchmal das Gefühl bekomme es nur "Falsch" machen zu können und darunter zerrissen werde:
Scham, wenn ich eine Meinung habe oder anderer Meinung bin und diese äußere.
Scham, wenn ich keine Meinung habe oder anderer Meinung bin und diese nicht äußere.
Scham, wenn ich etwas weiß.
Scham, wenn ich etwas nicht weiß.
Scham, wenn mir etwas ungerechtes passiert.
Scham, wenn mir etwas Gutes passiert.
Scham, dass ich es aktuell nicht schaffe zu arbeiten.
Scham, dass ich zwischenzeitlich gearbeitet habe und mich nicht um das eigene Innere gekümmert habe.
Scham, wenn ich neben mir stehe.
Scham, wenn ich geerdet bin oder die anderen Anteile gerade mal nicht wahrnehme.
Scham, dass die anderen Anteile da sind.
Scham, darüber anders zu sein.
Scham, wenn ich/wir die Kontrolle verloren habe/n.
Scham, weil mir von Dingen berichtet wird, die ein Anteil gemacht hat.
Scham, wenn ich mitbekomme, was ein anderer Anteil gemacht hat oder gerade macht.
Scham, wenn ich nicht weiß, was passiert ist.
Scham, wenn etwas oder jemand von unserem Innern im Außen bemerkt wurde.
Scham, wenn ich mir keine Hilfe holen konnte.
Scham, während ich mir Hilfe hole.
Scham, weil ich existiere.
Scham, diesen Block zu schreiben, genauso wie das nicht zu tun.
Scham, weil ich mich dafür schäme.
usw...
Doch warum ist das eigentlich so und warum tritt das zum Teil bei so gegensätzlichen Dingen auf?
Warum empfinden Menschen überhaupt Scham und warum ist angemessene Scham wichtig?
In normaler Dosierung sind Schamgefühle, wie auch Schuldgefühle (die eng mit Scham verknüpft sind) ein nützliches Mittel, des Menschen sich an die Normen (Erwartungen) unserer Lebensumgebung (gesellschaftliche und kulturelle Gruppen) anzupassen. Sie ist an der Bildung unseres Gewissens und von Moralvorstellungen beteiligt und fördert so ein ethisches Verhalten und beeinflusst unsere Identität.
Scham wird als Reaktion auf das Gefühl des Scheiterns und erlebter, sowie erwarteter Unzulänglichkeit in den Augen anderer empfunden. (vgl. Boon, 2013)
Die Basis dafür, was jemand als Schamhaft erlebt, wird somit von der eigenen Erwartung darüber, wie andere (einzelne oder die Gesellschaft) auf einen reagieren (oder reagieren könnten) und einer als unangenehm empfundene Reaktion des anderen auf unser Verhalten, gebildet.
Wie reagieren Menschen auf das Empfinden von Scham?
Schamgefühle gehen mit teilweise intensiven körperlichen Erscheinungen einher, die von erröten, den blick senken, schwitzen, bis zum erstarren oder kollabieren reichen können.
Eine natürliche Reaktion des Menschen auf Scham kann es sein ihr durch Vermeidung, in Form von Rückzug von äußeren Faktoren oder dem Erleben im Inneren, sowie durch den Gegenangriff auf andere oder Selbstentwertung (Angriff auf sich selbst) zu begegnen. Jeder Mensch hat hierbei meist favorisierte und spezifische Vermeidungsmuster und neigt in der eigenen Reaktion zu diesen. (vgl. Boon, 2013)
Eine als beschämend empfundene Reaktion, z.B. weil man für ein Verhalten getadelt wird, kann also dazu führen, dass sich nächstes Mal anders verhalten wird um dieser Reaktion auszuweichen. Oder die tadelnde Person wird angegriffen, damit sie nächstes Mal vielleicht anders reagiert und man die Scham selbst nicht spüren muss.
Beim Vorliegen von dissoziierten Persönlichkeitsanteilen (im Sinne einer partiellen oder vollständigen dissoziativen Identitätsstörung - (p)DIS) kann das Empfinden von Scham oder bestimmten Qualitäten davon und/oder das Reaktionsmuster, je nach Anteil unterschiedlich ausfallen oder auch vollständig in bestimmte Anteile dissoziiert sein. So, dass es für einen anderen Anteil, der vielleicht gerade funktionieren muss nicht mehr bewusst wahrnehmbar ist. (vgl. Boon, 2013)
Die Ausprägung und Aufbau des dissoziativen Persönlichkeitssystems ist hier sicherlich, wie auch sonst, stark von der eigenen Biographie abhängig.
Bei mir ist es so, dass ich als Host (Hauptsächlich im Alltag anwesender Persönlichkeitsanteil) sehr wohl Scham fühle. Sehr konkret und direkt, in Bezug auf (gefühlt) eigenes Versagen oder unangepasst sein, bei im Heute gültigen Erwartungen an mich/uns und durch das Vorhandensein und Auftauchen von Dissoziationen und Persönlichkeiten, die im Außen aufgefallen sind. Und bei genauerer Betrachtung auch indirekt, durch internalisierte damalige (im Heute nicht mehr in dem Umfang gültige) Erwartungen an mich und/oder die anderen Anteile. Diese alten und neuen gesellschaftlichen Regeln und Erwartungen scheinen dabei immer wieder in Konflikt zu geraten, was das Gefühl erklären würde, dass ich mich durch Scham innerlich zerrissen fühle.
Zum Beispiel bei:
"Scham, wenn ich eine Meinung habe oder anderer Meinung bin und diese äußere."
--> Wenn ich das tatsächlich schaffe (und ich möchte das nicht nur schaffen, weil es von außen erwartet wird), dann löst das bei mir aus, dass ich darüber nachdenke, ob das jetzt angemessen war oder ob ich mich damit lächerlich mache. Was vermutlich aus dem Teil der Kindheit kommt, in den hauptsächlich ICH aktiv gelebt habe.
Nämlich dem bei meiner Mutter, der es im Rückblick u.a. nie darum ging, wie es mir geht, sondern wie sie mich gerne sehen möchte und wie ich nach außen hin sein soll, damit sie die "Übermama" sein kann. "Sieh her was ich alles für dich tue" und dafür dann sehr viel Dankbarkeit erwartet, unabhängig davon ob sie etwas für sich selbst oder mich getan hat. Für eigene Wünsche oder eine Meinung war da kein Platz und die "falschen" Gefühle zu haben sorgte dafür, dass es ihr schlecht ging, weil sie tut ja alles und ich bin die, welche undankbar und falsch ist. Was natürlich als Kind dafür Sorgt, dass man sich für sich selbst schämt.
Bei anderen Anteilen hingegen kann das Äußern oder Besitzen einer eigenen Meinung bis hin zu Todesangst auslösen, was ich dann je nach Anteil und Gesamtsituation unterschiedlich intensiv zu spüren bekomme. Manchmal bekomme ich spontan Durchfall oder mir wird schlecht, aber sonst bemerke ich nichts, außer einem diffusen weit entferntem irgendwas. Manchmal wird es spürbar unruhig im Innern und löst verschieden starke dissoziative Zustände aus, aber ich schaffe es da zu bleiben und manchmal löst es mich ganz auf und ein anderer Anteil übernimmt das Handeln. Dies löst im Nachhinein natürlich neue Scham bei mir aus und macht es nächstes Mal wahrscheinlich erstmal wieder schwieriger so zu handeln, wie ich es eigentlich möchte.
"Scham, wenn ich keine Meinung habe oder anderer Meinung bin und diese nicht äußere." --> Hier spielt als Erwartung von außen wahrscheinlich eine Rolle, dass von einer Erwachsenen, selbstständigen Person sehr wohl eine eigene Haltung und Meinung erwartet wird. Zum Beispiel im Arbeits- oder Freundeskreis. Es gibt aber auch die allgemeine, sehr verständliche Erwartung an (insbesondere) psychisch "Kranke" im Hilfesystem (zu diesem System gehören auch helfende Freunde oder Angehörige), sich zu entwickeln und Fortschritte zu erzielen. Keine Meinung zu haben oder diese nicht zu äußern, aber auch viele andere Dinge, die in unserer heutigen Gesellschaft vermeintlich als Charakterschwäche gelten, können so zu Scham führen. Bei mir vermutlich, weil ich es auch selbst können möchte und (wie ich mir tatsächlich auch manchmal anerkenne) Mutig immer wieder versuche zu tun. Trotzdem erfüllt ein Scheitern weder den Anspruch, den gefühlt das Außen stellt, noch den Anspruch den ich mir stelle und führt deshalb zu Scham. Ebenfalls wenig hilfreich ist hierbei bestimmt, dass K. (ein Persönlichkeitsanteil) mir vermeintliche Schwäche jedes Mal vorhält, wenn sie passiert.
Und vielleicht reiße ich mich durch diese Gründe nächstes Mal auf kosten von was anderem mehr zusammen, um meine Meinung zu äußern.
Ich denke spätestens jetzt ist klar, woher in diesem Fall das Gefühl, des zwischen Scham oder eher gesagt den einzelnen Erwartungen und (ur)Ängsten hin und her gerissen zu werden, stammt. Es lähmt mich (teilweise Wörtlich) und lässt mich momentan nicht weiterkommen. Dazu kommt noch, dass ich ganz allgemein dazu neige mich anderen Menschen sehr stark anpassen zu wollen, um mich sicher zu fühlen, in der Form, dass ich mich unterwerfe, was natürlich auch (wie soll es auch anders sein), aber nicht nur, mit Scham zu tun hat.
Ich denke für den Anfang ist es Hilfreich sich wie im Beispiel anzuschauen und zu sortieren, was genau die Scham in einzelnen Situationen auslöst, welche tatsächlichen oder gedachten Erwartungen und Befürchtungen dahinter stehen und wenn möglich einzuordnen, woher diese kommen, um einen gesunden Abstand zu dem "der Scham einfach ausgeliefert sein und zerrissen werden"-Gefühl zu bekommen. Und Verstehen, kann auch dabei helfen, zu beginnen, zumindest die Scham an sich nicht mehr mit noch mehr Scham zu beantworten.
Quelle:
Boon, S., Steele, K., Van der Hart, O. (2013), "Traumabedingte Dissoziation bewältigen": Scham und Schuldgefühle bewältigen S. 273-280; Junfermann Verlag Bonn
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