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  • AutorenbildKarla B.

Auf dem Drahtseil

Aktualisiert: 5. Nov. 2023

ICH - WO bin ich? WER bin ich inmitten der mich ziehenden Kräfte?

Ich fühle mich wie auf einem Drahtseil balancierend.


Hinter mir ziehen, beim Balancieren, meine eigenen Erfahrungen und alten "Wahrheiten". Es zieht die Scham und die Angst, vor Kontrollverlust und aufgrund eines nicht funktionierens meinerseits abgelehnt und alleine gelassen zu werden.


Neben mir, von der einen Seite - aus einem Abgrund heraus - ziehen die anderen Persönlichkeitsanteile und "Splitter" mit ihren Erfahrungen und "Wahrheiten". Sie ziehen dabei in unterschiedliche Richtungen.


Die einen wie K. ziehen mehr in Richtung vor mir, verlangen, dass ich weiter mache, dass ich mich nicht unterkriegen lassen soll, nicht klein sein soll, nicht schwach in ihren Augen. Verlangen, dass ich auf ihre Art kämpfen soll und tun das gegebenenfalls sonst selbst.


Andere Anteile reißen mich teilweise vom Seil herunter, in einen Abgrund mit ätzendem, schwer triefendem Nebel, angefüllt mit schreienden und wimmernden Seelen, gefangen in einer grausamen Schleife, aus der sie nicht ausbrechen können. Ich löse mich in dem Nebel auf. Ich verliere mein selbst. Da ist nichts mehr von mir.

Bis ich wieder auf dem Drahtseil stehe, irritiert, mit dem diffusen Gefühl, dass etwas war, was extrem war, was ich nicht greifen kann.


Und noch wieder andere Persönlichkeitsanteile, wie u.a. S. wollen mich, bzw. uns in eine andere Richtung in der äußeren Lebensführung ziehen, weil sie mit dem Konzept wie das äußere Leben gestaltet ist nicht einverstanden sind. Manche sind davon überzeugt, dass wir gar kein Recht auf Leben haben.


Auf der anderen Seite vom Drahtseil zieht die Außenwelt:

Ich erfasse sehr genau, was von mir erwartet wird und versuche oft es jedem recht zu machen und Konflikte zu vermeiden. Nicht alle Erwartungen, die mich ziehen, sind dabei real existent. Manchmal (oder oft, wie einige sagen) denke ich auch nur, dass etwas von mir erwartet wird und es stellt sich raus, dass ich mir selbst zu viel Stress gemacht habe...

Ein großes Beispiel, dafür ist, dass ich dachte, ich würde - von meinem Umfeld aus gesehen - nur dann eine Existenzberechtigung haben, wenn ich einfach weiterarbeite, mich mehr zusammenreiße, die anderen Anteile mehr aussperre, meine zunehmenden psychosomatischen Beschwerden mehr ignoriere usw., bis gar nichts mehr ging und ich völlig zusammengebrochen bin.


Auch unangebrachte Erwartungen mir gegenüber, welche ich gar nicht erfüllen müsste, weil sie meine Grenzen überschreiten, sind ein Thema. Oft fällt mir erst im Nachhinein auf, dass ich eine solche Erwartung erfüllt und nicht auf meine Grenze geachtet habe.

Zum Beispiel habe ich, Freude darüber ausgedrückt, als mein Vater mir zum Geburtstag telefonisch gratuliert und mir einen gemeinsamen Restaurantbesuch geschenkt hat. Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich mich von seiner Erwartung habe "ziehen" lassen. Ich freue mich kein bisschen darüber und es ist für uns aus gutem Grund eine große Belastung, wenn wir uns mit ihm treffen (müssen). Aber natürlich gibt es auch hier Anteile die sich tatsächlich sehr gerne mit ihm treffen würden, auch die haben da sicherlich ihre Gründe...


Das mit dem krampfhaften Erfüllen wollen von: "Ist nicht so- und Muss nicht sein Erwartungen" ist nicht mehr so extrem, wie es mal war, weil ich schon seit längerem versuche zu unterscheiden, was tatsächlich erwartet wird und wichtig ist und was meiner Angst entspringt etwas falsch zu machen und in anderen Augen nicht zu funktionieren. Es fällt mir immer noch sehr schwer mich da angemessen abzugrenzen und mich nicht ständig vom Seil ziehen zu lassen oder dabei durch eigene Scham noch selbst mitzuziehen.

Ein namenloser eher wütend/kämpferischer Anteil, den ich seit etwas über einem Jahr immer mal wieder wahrnehme, bzw. dessen teils bissigen Bemerkungen, laut an mir vorbei, aus dem Mund kommen, ist bei dem Abgrenzen manchmal eine Hilfe, bei meiner Scham und meinem Harmoniebedürfnis eher nicht.


Es gibt jedoch auch Erwartungen, Forderungen oder Hilfen, welche von außen ziehen, die tatsächlich in positiver Absicht gestellt werden und darauf abzielen mich/uns voranzubringen.

Zum Beispiel, wenn mir zu mehr Struktur: wie früher Aufstehen und regelmäßig Essen, geraten wird. Ich weiß selbst, dass es wichtig ist, eine Struktur aufzubauen und zu halten, wenn es u.a. darum geht Depressionen zu bewältigen und dies Dinge sind, die von einem selbstständigen Erwachsenen erwartet werden. Ich will selbst, funktionieren. Lange Zeit wollte ich das um jeden Preis... und es war trotzdem gefühlt nie genug.

Es hat lange gebraucht, zu erkennen und zu akzeptieren, dass nicht alles funktionieren muss. Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern, dass ich/wir nicht immer funktionieren müssen und können. Es erscheint mir heute z.B. viel wichtiger, dass wir ausreichend schlafen und nicht, dass ich zu einer bestimmten Zeit aufstehe. Oder, dass ich überhaupt daran denke, etwas zu essen, weil ich den Hunger nicht wahrnehme, als was ich esse oder zu welchen Zeiten.

Die Dosierung mit der von außen gezogen wird, stimmt manchmal einfach nur nicht mit dem überein, was für mich/uns zu dieser Zeit leistbar und wichtig ist, auch wenn sie grundsätzlich in eine gute Richtung zieht.


Ich mag es nicht ständig vom Drahtseil in den ätzenden Nebel gezogen werden, weil ich mich überfordere und weil es um Ziele geht, die für mich noch unerreichbar erscheinen und für welche vorher erst einmal andere Dinge gegeben sein müssen. Ich finde der Spruch: "Ratschläge sind auch Schläge", passt da ganz gut zu.

Oft genug sind schon die Ziele, welche ich uns selbst setze, zu hoch gegriffen. Es ist für mich auch schwer auszuhalten, nicht alles einach machen zu können und zu sehen, dass nicht alles gut für uns als System ist, was ich alleine durchziehen "könnte", wenn ich mich "zusammenreißen" würde. Oder zu hören, dass ich nicht mein ganzes "potenzial" zu nutzen scheine.


Ich muss das schon selbst aushalten und schon gegen meine Scham und die Überzeugung ankämpfen, die mir sagt, dass ich so nicht richtig bin und nicht sein darf. Was ja immer auch mitzieht.

Es wäre schön, wenn die Leute ihre Hilflosigkeit, mit der sie uns teilweise gegenüberstehen, mehr selbst aushalten könnten und sie nicht in noch mehr druck umwandeln...


Ich fühle mich unfrei unter dem ganzen Zug, der auch untereinander in ständiger Wechselwirkung steht.... Das Außen hat Einfluss auf das Innen und andersherum. Ich befürchte ständig die Kontrolle zu verlieren und vom Seil zu fallen. Da ist Angst zu zerreißen und nicht wieder auf dem Seil anzukommen.

Meine Therapeutin sagte zwar, dass sie nicht glaubt, dass ich, als hauptsächliche Alltagsperson, einfach verschwinde oder mich so sehr aufspalte, dass es mich nicht mehr gibt, aber die Angst bleibt trotzdem...


Aber was verschwindet dann? Irgendwo dazwischen muss doch ICH als der Anteil sein, der ich bin? Ich fühle mich nicht als die anderen Anteile und ich sollte auch nicht die Erwartung vom Außen sein. Aber wer kann ich dann sein? Ich war immer die, welche solange versucht hat auszubalancieren und den Zug durch Anpassung zu begegnen, bis es mich vom Seil schmeißt. Die, die nicht negativ auffallen wollte und versucht hat unauffällig mit dem Strom zu schwimmen.


Was ist mit den Momenten, in denen der Zug gerade nicht so groß ist? Wenn die Seile nicht so straff gespannt zu sein scheinen und ich nicht anderweitig in Nebel stecke? Sie sind selten, besonders mit anderen Menschen, aber diese Momente gibt es auch. Irgendwas muss es da ja geben, was ich einfach so an mir akzeptiere und was mich als mich ausmacht, wenn ich nicht versuche nirgends anzuecken. Irgendwas, das ich wohl genug an mir schätze, um es nicht durch zerreißen verlieren zu wollen...

Es wird wohl ein wichtiger Schritt sein zu schauen, wo das Ziehen endet und ich anfange. Und wo ich möchte, dass das Ziehen endet und meine/unsere Grenzen anfangen.


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